Aktuell ist kein guter Zeitpunkt für einen Besuch der Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas. Der Konflikt zwischen Han-Chinesen und Uiguren in dieser Region schwelt zwar schon seit Jahrhunderten, aber in den letzten Jahren hat China seine "Sicherheitsmaßnahmen" in der Provinz drastisch erhöht. Beide Seiten begründen ihre Ansprüche auf uraltem kulturellen Erbe in der Region, doch die Realität ist sehr kompliziert, so wurden die ursprünglichen Bewohner entweder komplett ausgetauscht oder von neuen Einwanderern vollständig assimiliert. Die Chinesen hatten die Region zuerst vor ca. 2000 Jahren erobert, ihre Herrschaft wurde jedoch immer wieder von nomadischen Stämmen oder lokalen Staaten unterbrochen, bevor im 8. und 9. Jahrhundert die Uiguren aus der heutigen Mongolei einwanderten. Der dabei enstandene Uiguren-Staat wurde dann selbst größtenteils von fremden Mächten kontrolliert und unterwarf sich schließlich als Vasallen der chinesischen Qing-Dynastie, nachdem die Uiguren diese gebeten hatten, sie im 17. und 18. Jahrhundert von den Dschungaren zu befreien. Han- und Hui-Chinesen migrierten dann in den Norden Xinjiangs, nachdem die dortigen Dschungaren massakriert worden waren, und später siedelten die Qing auch Uiguren von ihren Heimatstädten im Süden Xinjiangs in die gesamte Provinz um.
Nach turbulenten Jahren unter der Herrschaft der Republik China, der Sowjetunion und zwei kurzlebigen, unabhängigen Republiken, übernahm die Volksrepublik China die Kontrolle. In der uigurischen Bevölkerung gab es schon immer eine gewisse Abneigung gegenüber chinesischer Herrschaft, dies nahm jedoch in den 1970er Jahren zu, aufgrund des wirtschaftlichen Ungleichgewichts zwischen überwiegend von Han-Chinesen bewohnten Norden Xinjiangs und dem mehrheitlich uigurischen Süden, der staatlich geförderten Masseneinwanderung von Han-Chinesen in die Provinz und einer Politik, welche die kulturelle Einheit Chinas vorantrieb. Seit den 1990ern provozierten dann Terroranschläge der uigurischen Unabhängigkeitsbewegung unbarmherzige Antworten der Staatspolizei, was die Spannungen zwischen Uiguren und Han-Chinesen noch verstärkte. Nun sagen die Uiguren, dass die Regierung durch Überwachung, Kontrolle und Unterdrückung religiöser Aktivitäten ihre kulturelle Identität auslöschen will. Anders als andere muslimische Volksgruppen in China, dürfen Uiguren nicht fasten während des Ramadans, keinen Schleier tragen und ihre Kinder nicht in die Moschee mitnehmen. Hunderttausende Uiguren werden zurzeit ohne Gerichtsverfahren in politischen "Umerziehungslagern" festgehalten. Han-Chinesen in Xinjiang beschweren sich währenddessen über positive Diskriminierung von Uiguren (z.B. bevorzugter Zugang zu Universitäten) und bezichtigen sie separatistischer Ambitionen. Mittlerweile hat die chinesische Regierung einen umfassenden Überwachungsstaat geschaffen, mit Kameras, Kennzeichenscannern und Polizeiposten an fast jeder Ecke.
Was wir von anderen Radfahrern und aus Onlinequellen erfahren hatten, erzählte größtenteils von häufigen, zeitaufwändigen Polizei-Checkpoints entlang den Straßen zwischen und auch in den Städten. Den Leuten wurden an der Grenze ihre Messer und Gaskartuschen zum Kochen konfisziert, Spionage-Software auf den Handys installiert und Trickfragen gestellt. Wild zu campen ist in China grundsätzlich verboten, aber in Xinjiang wird dieses Verbot auch strikt umgesetzt. Gleichzeitig gibt es in dieser riesigen, dünn besiedelten Region zu wenige und für Radfahrer zu weit voneinander entfernte Hotels, die Ausländer aufnehmen dürfen. All diese Faktoren brachten uns zu der Entscheidung, diese Provinz so schnell wie möglich per Zug zu durchqueren.
Unser Besuch begann, natürlich, am Grenzübergang von Kasachstan nach Xinjiang in der Stadt Khorgas. Wir waren überrascht, dass die Hälfte des Singapurer Konvois (bei denen wir am Vortag nach Zharkent mitgefahren waren) immer noch auf der kasachischen Seite feststeckte, als wir drei Stunden nach ihnen dort eintrafen. Dies war nur die erste von vielen, unerwarteten Verzögerungen für ihren Grenzübertritt mit Auto. Mit unseren Fahrrädern mussten wir jedoch in Kasachstan fast gar nicht warten und fuhren schnell weiter zur chinesischen Seite. Pass- und Zollkontrollen dort dauerten natürlich viel länger als in Kasachstan, waren aber immer noch deutlich kürzer als die zwei oder drei Stunden, die wir erwartet hatten. Hannah spazierte mehr oder weniger ungestört durch die Passkontrolle, aber Heikos Reisepässe wurden mit größter Sorgfalt untersucht (mehrere Beamte, Lupen, UV-Licht usw.), woraufhin er in einen separaten Raum gebeten wurde, wo sein Handy und seine Kamera durchsucht wurden (wobei die Beamten es irgendwie geschafft haben, sich in einen komplett leeren Gastzugang auf dem Handy einzuloggen). Bei der Zollkontrolle wurde dann nach Büchern und Messern gesucht (jede Familie in Xinjiang darf nur ein Messer besitzen, dass auf ihren Namen registriert und mit ihm graviert sein muss), aber nachdem sie nichts gefunden hatten (wir hatten unser Camping-Messer in der Satteltasche versteckt), durften wir endlich einreisen. Wir waren überrascht, dass sie weder unsere Werkzeuge noch unsere Gasflasche sahen und konfiszierten, da dies anderen Radfahrern vor uns widerfahren war.
Willkommen in China! Ein wuchtiges Gebäude begrüßt uns beim Verlassen der Grenzkontrolle in Khorgas
Fahrräder sind in chinesischen Zügen nicht erlaubt, sondern müssen als Fracht aufgegeben werden. Die meisten normalen Züge haben Gepäckwaggons, die Hochgeschwindigkeitszüge jedoch nicht. Man muss jedoch nicht den gleichen Zug wie sein Gepäck nehmen, und der Preisunterschied zwischen zwei Betten im regulären Nachtzug und zwei Sitzen im Hochgeschwindigkeitszug bei Tag ist im Allgemeinen groß genug, um für ein Hotelzimmer zu bezahlen. Daher war unser Plan, die Fahrräder und den Großteil unseres Gepäcks sofort am Bahnhof von Khorgas für den Nachtzug nach Urumqi aufzugeben, während wir im Hotel übernachten und am nächsten Morgen mit dem Hochgeschwindigkeitszug hinterher fahren würden. Das Gleiche würden wir dann nochmal für die Strecke von Urumqi nach Jiayuguan, was schon in der nächsten Provinz (Gansu) liegt, wiederholen.
Unsere Pläne platzten jedoch schnell, als wir am Bahnhof ankamen und man uns dort sagte, dass sich die nächste Gepäckstation in der Regionalhauptstadt Yining, ca. 90km entfernt, befindet. Bei der weiten Entfernung, den Polizeikontrollen und der schlechten Wettervorhersage hatten wir nicht so viel Lust auf Radfahren und so fragten wir unsere singapurer Freunde, ob wir nochmal bei ihnen mitfahren könnten. Sie hätten uns gerne geholfen, aber angesichts Sicherheitslage wollten sie lieber nur unsere Fahrräder transportieren, so dass wir doch noch den Zug nehmen könnten. Außerdem steckten all ihre Autos am ersten Abend noch in der Zollkontrolle fest, so dass wir am nächsten Morgen noch etwas Zeit hatten, eine weitere Option auszuloten: den Bus nach Yining zu nehmen.
Was uns in Khorgas unmittelbar auffiel, war die Größe des Ortes. Wir hatten nur ein kleines Grenzstädtchen erwartet, fanden dann jedoch eine große Stadt vor, mit mehr Hochhäusern als jede zentralasiatische Stadt, einer Skyline, die schon mehrere Kilometer vor der Grenze zu sehen war. Überall waren Sicherheitsvorkehrungen: Häufige Straßensperren, Polizei-Checkpoints und Überwachungskameras in der ganzen Stadt. Am Eingang jedes Hotels stand ein Metalldetektor und ein Röntgengerät, um das Gepäck zu durchleuchten, und jeder Laden und jedes Restaurant hatte einen Satz Helme, stichsichere Westen und Schutzschilde bereit liegen. Das Essen war definitiv anders als das in Zentralasien und überraschend scharf. Durch zwei Stunden Zeitverschiebung gegenüber Kasachstan und zu viel Zeitbedarf für unsere weitere Reiseplanung gingen wir die erste Nacht erst ziemlich spät schlafen.
Die Skyline von Khorgas, gesehen aus Kasachstan, in ein paar Kilometern Entfernung von der Grenze
Am nächsten Morgen suchten wir den Busbahnhof auf, nur um dort wieder abgelehnt zu werden, da man uns sagte, unsere Fahrräder seien zu groß für den Bus nach Yining. Also hatten wir keine andere Wahl, als schnell zum Hotel unserer singapurer Freunde zu eilen, erfuhren dort jedoch, dass ihre Autos immer noch im Zoll feststeckten und, nach längerem Warten und einem gemeinsamen Mittagessen, dass sie noch eine weitere Nacht in Khorgas verbringen müssten. Also versuchten wir unser Glück noch einmal am Busbahnhof und fanden diesmal einen Busfahrer, der willens war, uns und unsere Fahrräder nach Yining mitzunehmen (fairerweise muss man sagen, dass der Bus klein war und wir selbst nicht glaubten, dass unsere Räder hineinpassen würden, als wir ihn sahen - aber sie passten!). An den Stadtgrenzen von Khorgas und Yining mussten wir dann jeweils aussteigen und in ein großes Gebäude gehen, wo von mehreren Polizisten, die kein Englisch lesen konnten (sie hatten Schwierigkeiten, die Monatsangaben in Hannahs Reisepass zu lesen), unsere Pässe registriert und Fotos von uns gemacht wurden. Unsere Kontrollen liefen wahrscheinlich etwas schneller ab, da Hannah etwas Chinesisch spricht und wir die Fragen der Polizisten so schnell beantworten konnten, aber wir können uns vorstellen, wie diese Kontrollen für andere Ausländer viel länger und viel anstrengender sein können.
Als wir endlich in Yining angekommen waren, fuhren wir sofort zum Bahnhof, um unsere Fahrräder dort aufzugeben. Die Sicherheitsvorkehrungen am Bahnhof sind ebenfalls sehr streng und wir, unsere Fahrräder und all unser Gepäck mussten durch Sicherheitskontrollen, die nur für Fußgänger ausgelegt waren. Hier wurden dann unsere Gasflasche und unser Reifen-Flick-Kleber beschlagnahmt und das Messer unseres Multifunktionswerkzeugs abgebrochen, nur damit qir danach im Bahnhof feststellen konnten, dass das Frachtbüro bereits geschlossen war. Als wir am nächsten Tag endlich das Frachtbüro erreichten (nachdem wir wieder durch die Sicherheitskontrolle mussten), wollten sie dort sogar unsere Fahrräder durch das Röntgengerät schicken, wofür wir zunächst die Vorderräder abmontieren mussten. Von dort an lief es dann endlich etwas flüssiger. Wir konnten Fahrräder und Gepäck direkt nach Jiayuguan verschicken, was uns die Mühe ersparte, in Urumqi alles abholen und neu aufgeben zu müssen. Nachdem wir uns von unseren Fahrrädern verabschiedet hatten, nahmen wir letztendlich einen Nachtzug nach Urumqi, wo wir sofort auf einen Hochgeschwindigkeitszug nach Jiayuguan umstiegen und mit über 200km/h aus der Provinz Xinjiang herausdüsten. Selbst bei dieser Geschwindigkeit schien sich die karge Landschaft zwischen Taklamakan- und Gobi-Wüste ewig hinzuziehen, so dass wir ziemlich froh waren, dort nicht wochenlang radfahren zu müssen.