Höhenwahnsinn

Erstellt am 2019-08-07

Nach unserer langen Pause in Khorugh war es endlich an der Zeit, den hohen Pamir anzugehen. Auf dem Weg aus Khorugh heraus, auf der auch als "Pamir Highway" (in Wirklichkeit nur eine kleine Straße) bekannten M41, fuhren wir zunächst für ca. 100km durch eine lange Reihe Dörfer. Den vielen, relativ schönen Häusern nach zu urteilen, scheinen die ersten Dörfer nach Khorugh als Wohnort sehr beliebt zu sein, wobei die Dörfer mit zunehmender Entfernung von Khorugh schnell sichtbar weniger entwickelt waren. Wir hatten Glück und fast die ganze Zeit Rückenwind auf dem Weg von Khorugh Richtung Osten, was die vorherrschende Windrichtung zu sein scheint.

Sowjetische Halbtunnel auf dem Weg von Khorugh, am Fluss Gunt

Sowjetische Halbtunnel auf dem Weg von Khorugh, am Fluss Gunt

Die Straße ist nicht sehr steil, steigt aber langsam von Khorugh auf 2100m zu einem 4272m hohen Pass auf. Die Faustregel für Aufstiege über 2500m ist, nur 300m am Tag an Höhe zu gewinnen und zur Akklimatisierung alle drei Tage einen zusätzlichen Tag Pause einzulegen. Bei Hannahs vorheriger Erfahrung mit Höhenkrankheit in Nepal wollten wir kein Risiko eingehen und planten daher kurze Tage, um diese Faustregel einigermaßen einzuhalten. Am ersten Abend nach Khorugh, auf einer Höhe von 2600m, begann Hannah, Diamox zu nehmen, ein Medikament, dass bei der Akklimatisierung hilft. Dennoch fuhren wir am nächsten Tag zu weit, 450m hinauf, und Hannah bekam am Abend starke Kopfschmerzen, die bis zum nächsten Morgen andauerten. Unser ursprünglicher Plan war es, an diesem Tag bis nach Jelondy zu radeln, was einen weiteren Aufstieg von 450m bedeutet hätte, aber wir beschlossen spontan, diese Strecke auf zwei Tage aufzuteilen (im Nachhinein hätte dieser 900m Aufstieg von vornherein auf drei Tage verteilt werden sollen). So hatten wir zwei extrem kurze Tage, zuerst 150 Höhenmeter über bloß 11km (ein Rekordtief für uns) und am zweiten Tag 300m Aufstieg über 23km. Durch diese spontane Planänderung zelteten wir dreimal in Folge, aber fanden jedes mal Plätze am Fluss und unter einem großen Busch, der am Morgen Schatten spendete und es uns ermöglichte, einigermaßen auszuschlafen (Sonnenaufgang war diese Tage um ca. 5 Uhr).

Unser Zeltplatz direkt am Fluss Gunt am ersten Abend nach Khorugh

Unser Zeltplatz direkt am Fluss Gunt am ersten Abend nach Khorugh

Die Berglandschaft am Fluss Toghuzbulok zwischen Khorugh und Jelondy

Die Berglandschaft am Fluss Toghuzbulok zwischen Khorugh und Jelondy

Kurz bevor wir im Dorf Jelondy ankamen, überquerten wir die Baumgrenze und von dort an gab es keinen Schatten mehr entlang der Straße. Jelondy ist bei einheimischen Touristen für seine heißen Quellen beliebt, die positive Gesundheitswirkung haben sollen. Viele Häuser im Dorf bieten Privatunterkunft und Zugang zu ihren eigenen heißen Quellen an, aber wir entschieden uns für den Aufenthalt in einem Sanatorium aus Sowjetzeiten - eine einfache, etwas heruntergekommene Art Hotel mit zwei nach Geschlechtern getrennten heißen Bädern. Das Bad, welches man nackt betritt (daher keine Fotos), ist ein kleines Schwimmbecken, durch welches das heiße Quellwasser fließt. Die Temperatur im Frauenbad war einigermaßen erträglich, um darin zu schwimmen oder länger zu sitzen, aber das Männerbad war so heiß, dass die Gäste dort nur selten schwammen und meistens nur für ein paar Minuten auf Stufen halb im Wasser saßen und dazwischen immer wieder kalt duschten. Das Sanatorium hatte auch ein Restaurant, aber das Essen war ziemlich einfach und die Portionen winzig. Viele Einheimische schienen nur für einen Tagesausflug gekommen zu sein, aber die Zimmer waren dennoch fast komplett ausgebucht, als wir dort waren. Für ungefähr 3€ pro Person war der Aufenthalt ziemlich günstig.

Unser Zimmer im Sanatorium von Jelondy, in typischem Sowjet-Stil

Unser Zimmer im Sanatorium von Jelondy, in typischem Sowjet-Stil

Unser Zimmer im Sanatorium von Jelondy war in dem ersten Gebäude hier, welches auch das älteste zu sein scheint. Das rot-weiße Gebäude dahinter (links zu sehen) ist neuer und bietet ein Restaurant und weitere Zimmer. Das gelbe, zweistöckige Gebäude rechts befindet sich noch im Bau. Bei all den Erweiterungen scheint es so, dass dieser Ort sehr beliebt bei (überwiegend einheimischen) Touristen ist!

Unser Zimmer im Sanatorium von Jelondy war in dem ersten Gebäude hier, welches auch das älteste zu sein scheint. Das rot-weiße Gebäude dahinter (links zu sehen) ist neuer und bietet ein Restaurant und weitere Zimmer. Das gelbe, zweistöckige Gebäude rechts befindet sich noch im Bau. Bei all den Erweiterungen scheint es so, dass dieser Ort sehr beliebt bei (überwiegend einheimischen) Touristen ist!

Jelondy, auf 3550m, war das letzte Dorf vor dem 4272m hohen Koitezek-Pass, also zelteten wir auf halber Höhe nach einem weiteren, sehr kurzen Tag auf dem Rad. Hier, nach fünf Tagen langsamen Aufstiegs unter Einnahme von Diamox und fast am vorerst höchsten Punkt, fand Hannah heraus, warum sie dennoch so starke Kopfschmerzen hatte: sie hatte aus versehen die Diamox- und die Anti-Durchfall-Tabletten verwechselt und die falschen genommen! Kein Wunder, dass ihr Durchfall, der in der letzten Nacht in Khorugh anfing, so schnell wieder vorbei war...

Wir kamen schon früh am Nachmittag an unserem Zeltplatz zwischen Jelondy und dem Koitezek-Pass (4272m) an, aber wollten aufgrund der Höhe nicht weiter aufsteigen. Zum Entspannen haben wir ein provisorisches Sonnensegel aufgestellt.

Wir kamen schon früh am Nachmittag an unserem Zeltplatz zwischen Jelondy und dem Koitezek-Pass (4272m) an, aber wollten aufgrund der Höhe nicht weiter aufsteigen. Zum Entspannen haben wir ein provisorisches Sonnensegel aufgestellt.

Der nächste Tag war unerwartet hart. Seit Khorugh war die Straße eigentlich recht gut gewesen, also waren wir davon ausgegangen, dass wir die restlichen 300 Höhenmeter zum Koizetek-Pass schnell am Morgen bewältigen würden, wonach es dann überwiegend bergab zum zweiten, niedrigeren Tagharkaty-Pass auf 4168m gehen würde, und dann wieder bergab nach Alichur. Aber kurz nach unserem Zeltplatz verwandelte sich der Asphalt in eine Schotterstraße mit großen, groben Steinen und blieb so bis über den Pass. Selbst im niedrigsten Gang konnte Hannah auf dieser Höhe nicht genug Energie aufbringen, um auf der steilen, buckligen Straße ihr Gleichgewicht zu halten und musste letztendlich den Großteil der 5km zum Pass schieben. Dabei musste sie alle 20m anhalten, um wieder Atem zu schöpfen, so dass wir am Ende 2,5 Stunden für die Strecke brauchten. Als es dann endlich wieder bergab ging, hatte Hannah von der ganzen Anstrengung auf großer Höhe schon wieder Kopfschmerzen. Der zweite Pass wurde für sie daher zur Tortur. Obwohl er kürzer und weniger steil war, und unter normalen Umständen relativ einfach gewesen wäre, war er auch unbefestigt, und mit den starken Kopfschmerzen war es nicht nur hart, bergauf zu fahren, auch die Abfahrt war schmerzhaft, da die Kopfschmerzen mit jedem Schlag von der Straße schlimmer wurden.

Die Landschaft an der höchsten Stelle des Koitezek-Passes (4272m)

Die Landschaft an der höchsten Stelle des Koitezek-Passes (4272m)

Einsames Haus auf dem Weg hinab vom Koitezek-Pass (4272m)

Einsames Haus auf dem Weg hinab vom Koitezek-Pass (4272m)

Auf dem Weg hinauf zum ersten Pass wurden wir von einem russischen Radreisenden überholt, der an dem Tag von Jelondy gestartet war. Wir waren überrascht, dass die meisten Radler, die wir getroffen haben, so wie er, die Höhe bei ihren Planungen überhaupt nicht zu berücksichtigen scheinen. Alle schienen "normale" Etappen die Berge hinauf und über die Pässe zu fahren (d.h. normal in geringeren Höhen) und dabei überhaupt keine Probleme zu haben, der Anzahl an Tagen von einem Ort zum anderen nach zu urteilen, normalerweise viel weniger als wir.

Abseits unserer Probleme mit der Höhe änderte sich die Landschaft nach dem ersten Pass dramatisch. Vor dem Pass war die Landschaft immer von einem tiefen Flusstal flankiert von steilen Berghängen geprägt. Nach dem Pass erreichten wir plötzlich das Pamir-Plateau, mit weiten Tälern und niedrigeren (relativ zum Tal) Berggipfeln. Das elektrische Netz aus Khorugh reichte nur bis Jelondy und was wir für eine Stromleitung hielten (die nach überraschend niedriger Spannung aussah), war tatsächlich eine sowjetische Telefonleitung, die seit der Unabhängigkeit verfällt. Die Umgebung hier war trockener und lebensfeindlicher und es gab keine Dörfer mehr entlang der Hauptstraße bis Alichur - bloß gelegentliche, einsame Häuser inmitten der kargen Landschaft.

Das Tal auf dem Weg hinab vom Tagharkaty-Pass (4168m)

Das Tal auf dem Weg hinab vom Tagharkaty-Pass (4168m)

Wir hatten unsere Wasservorräte am Morgen nicht mehr aufgefüllt, da wir geplant hatten, bis zum Bulunkul-See zu fahren und dort, vor dem Campen, im Dorf aufzufüllen. Bulunkul ist ein 13km-Umweg bergab von der Hauptstraße auf einer recht guten Schotterpiste, was unter normalen Umständen relativ leicht gewesen wäre. Doch es war klar, dass wir es an diesem Tag nicht nach Bulunkul schaffen würden. Selbst als die Straße endlich besser wurde, kam Hannah immer noch nur extrem langsam voran und fuhr sehr vorsichtig über die Risse im Asphalt, um ihre heftigen Kopfschmerzen im Zaum zu halten. Ohne Wasser konnten wir aber auch nicht zelten, also steuerten wir die nächste Privatunterkunft an - ein einsames Haus inmitten einer trockenen, salzigen Ebene - und fragten, ob wir dort übernachten könnten.

Die dort wohnende Familie war sehr nett und freundlich und hatte auch vorher schon andere Radfahrer aufgenommen. Es war aber dennoch kein komfortabler Aufenthalt. Das Leben an diesem unwirtlichen Ort muss sehr hart für die Familie sein. Zum Abendessen wurde uns eine Schale warmer Milch angeboten und wir wurden instruiert, etwas Butter unterzurühren und Brotstückchen beizumischen. Zum Frühstück gab es dann wieder die gleiche Kombination und wir mutmaßen, dass die Familie meistens nichts anderes isst, da sie Kühe hält und sich so mit Milch und Butter selbst versorgen kann und da sie ihr eigenes Brot backen, während alles andere für sie teuer sein muss. Wir schliefen in einem leeren Zimmer neben dem Schlafraum der Familie und wurden in dieser Nacht oft von Leuten, die für irgendetwas am Haus anhielten, oder von Hannahs Kopfschmerzen geweckt.

Wir schliefen eine Nacht mit der Familie, die in diesem einsamen Hause nahe des Chururkul-Sees lebt

Wir schliefen eine Nacht mit der Familie, die in diesem einsamen Hause nahe des Chururkul-Sees lebt

Mit unserer Gastgeberfamilie vor ihrem Haus nahe des Chururkul-Sees

Mit unserer Gastgeberfamilie vor ihrem Haus nahe des Chururkul-Sees

Glücklicherweise war es am nächsten Tag dann aber nicht mehr weit bis Alichur, wo wir eine andere, dieses Mal sehr viel komfortablere Privatunterkunft fanden und endlich eine warme Eimerdusche nehmen konnten und den besten Schlaf seit langem hatten.

Das Dorf Alichur, am Ende (oder für uns am Anfang) eines langen, weiten und überraschend grünen Tals (auch wenn der grüne Teil von hier aus nicht zu sehen ist)

Das Dorf Alichur, am Ende (oder für uns am Anfang) eines langen, weiten und überraschend grünen Tals (auch wenn der grüne Teil von hier aus nicht zu sehen ist)