Alichur bedeutet Alis Fluch und man kann sich leicht denken, wie das Dorf zu seinem Namen kam. Nachdem wir in den letzten drei Tagen auf dem Rad nur vereinzelte, einsame Häuser gesehen hatten, war der Anblick eines ganzen Dorfes inmitten der kargen Landschaft eine ziemliche Überraschung. Warum würde irgendjemand hier leben, geschweige denn ein ganzes Dorf? Auf dem Weg ins Dorf kamen wir an etlichen Schildern vorbei, die Privatunterkünfte beworben (mit Bad!), also schien es so, als wäre die Hauptwirtschaftsaktivität im Dorf der Tourismus. Als wir dort jedoch einen Tag Pause einlegten und eine Tour in der Gegend unternahmen, fanden wir im Dorf und in den umliegenden Tälern mehr Leben als wir zunächst erwartet hätten.
Wir entschieden uns für eine Privatunterkunft, die der örtlichen Organisation "Burgut" nahestand. Die Unterkunft war komfortabel und wir hatten ein eigenes Schlafzimmer sowie eine Sitz- und Ess-Ecke für uns allein. Außerdem gab es eine Banja, eine russische Art Sauna mit heißer Eimerdusche. Noch wichtiger war, dass sie den Kontakt zu Burgut herstellen konnte, der örtlichen Organisation, welche das Schutzgebiet, bestehend aus mehreren Tälern nördlich von Alichur, managt. Neben der Überwachung der Wildpopulationen und der Verhinderung der Wilderei, bietet die Organisation auch Touren in der Gegend an, und wir buchten eine Tagestour zur Wildbeobachtung, um Sibirische Steinböcke und die scheuen Marco-Polo-Schafe zu sehen.
Wir hatten Glück, und unsere Tour wurde vom Burgut-Gründer und -Leiter Mahan selbst geleitet, zusammen mit einem seiner Ranger (die anderen Touren werden normalerweise nur von Rangern begleitet, die auch als Tourguides ausgebildet sind). In einem Geländewagen ging es off-road in die entlegenen Winkel mehrerer Täler, wo unsere Führer aus den Autos sprangen und anfingen, die umliegenden Hänge mit Ferngläsern nach Tieren abzusuchen. Seit der Gründung von Burgut und dem Schutzgebiet in 2012, sind die Populationen von Sibirischen Steinböcken und Marco-Polo-Schafen um mehr als das Fünffache gewachsen und umfassen heutzutage geschätzt 1000 Steinböcke und 600 Marco-Polo-Schafe. Da nun mehr Beute verfügbar ist, haben sich auch die Schneeleoparden erholt, auch wenn wir an dem Tag leider keine gesehen haben. Da die Steinböcke und Marco-Polo-Schafe nur am Morgen und Abend, wenn die Temperaturen niedriger sind, zum Grasen hinab ins Tal kommen und den Rest des Tages hoch oben auf den Bergen verbringen, waren sie sehr weit entfernt und mit bloßem Auge sehr schwer zu erkennen, als wir dort waren. Ohne die trainierten Augen unserer Führer hätten wir sicher gar keine gesehen.
Zum Mittagessen machten wir in einem Jurtenlager in einem der Täler im Schutzgebiet Rast. Östlich ab Alichur sind die Menschen überwiegend ethnische Kirgisen und wo Kirgisen sind, sind auch Jurten. Traditionell sind Kirgiisen nomadische Hirten und das weite, grüne Tal von Alichur bietet im Sommer gutes Weideland für ihre Yaks. Zu Mittag bekamen wir eine traditionelle Mahlzeit - Yak-Sahne und -Joghurt mit frisch gebackenem Brot und Pfannkuchen. Einfach, aber lecker!
Am nächsten Tag verließen wir endlich Alichur und machten uns auf den Weg nach Murghab. Hier fing der Murmeltier-Wahnsinn an. Schon auf dem Weg nach Alichur hatten wir ein paar Murmeltiere gesehen und waren froh, eines davon mit der Kamera erwischt zu haben. Da wussten wir aber noch nicht, dass der gesamte hohe Pamir voll von diesen unwiederstehlich niedlichen, orangenen Fellbällen ist. Unsere Mittagspause machten wir am Straßenrand direkt neben ein paar Murmeltier- und Erdhörnchen-Bauen und beobachteten die Tiere, während wir aßen. Dann fuhren wir mit starkem Rückenwind weiter und erreichten den gut befestigten Neizatash-Pass viel früher als erwartet (warum teeren sie nicht einfach alle Pässe?!), von wo es fast ausschließlich bergab nach Murghab ging. Während wir mit Rückenwind bergab rollten, überlegten wir, ob am selben Tag noch die ganze Strecke bis Murghab radeln sollten. Als wir aber an einem schönen, leicht versteckten Platz vorbeikamen, beschlossen wir, dort zu zelten. Dann hörten wir die Murmeltiere - wir zelteten im Murmeltierland!
Die Landschaft hinter dem Naizatash-Pass (4137m) auf dem Weg nach Murghab
Im Nachhinein stellte sich unsere Entscheidung, dort zu campen als glücklich heraus, da wir am nächsten Tag von mehreren Radlern aus der Gegenrichtung erfuhren, dass es in der Nacht unten im Tal extrem starken Wind gegeben hatte, der so viel Sand aufgewirbelt hatte, dass es in Murghab noch die nächsten zwei Tage, als wir dort waren, diesig war. Von unserem Zeltplatz aus konnten wir die Wolken von Murghab über die Berge kommen sehen, aber bei uns blieb es relativ ruhig - vielleicht waren wir genau in der Mitte zwischen zwei gegenläufigen Windfronten.
Sonnenuntergang von unserem Zeltplatz zwischen dem Naizatash-Pass (4137m) und Murghab
In Murghab fanden wir eine weitere, nette Privatunterkunft, die bei unserer Ankunft fast voll war - mit vier anderen Radlern, drei Motorradfahrern und drei Rucksackreisende (wir nahmen das letzte freie Zimmer). Wir erkundeten den Basar aus Schiffscontainern, wo wir endlich einige wichtige Sachen bekommen konnten, die vorher in keinem der kleinen Dorfläden zu finden waren (Schokocreme!), und probierten Yak-Eiskrem, die überraschend normal schmeckte. Ein Gewitter an unserem Pausentag half, die Staubwolke aufzulösen, und als wir weiterfuhren, hatten wir wieder klaren, blauen Himmel.
Der Sary-Kol-Basar, der Haupt-Basar von Murghab, der aus Schiffscontainern besteht
Auf dem Weg hinauf zum Ak-Baital-Pass, mit 4655m dem höchsten Punkt des Pamir-Highways, haben wir zweimal gezeltet. Die meisten Radler übernachten nur einmal, aber mit Hannahs Akklimatisierungs-Problemen wollten wir es lieber langsam angehen. Beide Nächte zelteten wir neben einem kleinen Fluss, was schön war, und beide Nächte auch neben Murmeltieren. Jedes Mal, wenn wir das Zelt verließen, hörten wir ihre Warnschreie und wir konnten sie aus der Ferne beobachten (falls sie uns nicht entdeckt und sich versteckt hatten), wie sie vor ihren Bauen herumhingen, zu putzig, um sie zu ignorieren.
Die Straße vom Süden hinauf zum Ak-Bailta-Pass war meist gut, sogar besser als erwartet, bis auf die Moskitos. Kurz hinter Murghab, wurden wir von aggressiven Mücken angegriffen, die aus dem Rangkul-Tal/-See zu stammen schienen. Es wurde so unerträglich, dass wir sogar Moskitospiralen an unseren Fahrrädern anbrachten und sie trotzdem noch ununterbrochen erschlagen mussten. Glücklicherweise waren die Mücken tagaktiv und ließen uns nach Sonnenuntergang in Ruhe. Außerdem flogen sie nicht höher als ~4000m, also wurden wir ab dem zweiten Tag größtenteils verschont. Nur die letzten 3km oder so vor dem Pass waren unbefestigt und selbst dann war die Straßenoberfläche noch relativ gut, so dass wir beide fast den ganzen Weg nach oben radeln konnten, wenn auch langsam und mit vielen Pausen, um in der dünnen Luft Atem zu holen.
Auf dem Weg hinauf zum Ak-Baital-Pass (4655m)
Der Weg hinab vom Ak-Baital-Pass jedoch war ganz das Gegenteil. Die Straße blieb für 20 weitere Kilometer unbefestigt und nachdem wir den steilsten Abschnitt vom höchsten Punkt herunter gerollt waren, war die Oberfläche der restlichen, flacheren Abfahrt so wellig, dass wir viel langsamer als erwartet voran kamen. Dazu kam am Nachmittag ein immer stärker werdender Nordwind, so dass wir, als wir endlich wieder Asphalt unter den Rädern hatten, noch langsamer voran kamen. Unser Plan, den ganzen Weg vom Pass nach Karakul hinabzurollen, funktionierte nicht. Letztendlich mussten wir in einem etwas geschützten, aber dennoch sehr windigen, Ort nur ca. 25km vor Karakul zelten und hatten im Sturm Schwierigkeiten, unser Zelt aufzustellen und Abendessen zuzubereiten.
Landschaft auf dem Weg hinab vom Ak-Baital-Pass (4655m)
Ein Murmeltier sonnt sich, auf dem Weg hinab vom Ak-Baital-Pass (4655m)
Am nächsten Tag erreichten wir endlich Karakul während der Wind am Morgen noch schwach war, so dass wir schnell fahren konnten und noch rechtzeitig zum Mittagessen im Dorf ankamen. Wir stiegen in einer weiteren, gemütlichen Privatunterkunft ab, wo wir drei andere Radfahrer trafen, denen wir den ganzen Weg bis Osh in Kirgisistan immer wieder begegnen würden. Karakul ist ein trostloser Ort - das Wasser im See ist zu salzig für kommerziellen Fischfang oder um damit das Umland zu bewässern und es verwundert nicht, dass viele der Häuser verlassen sind. Die Menschen, die hier noch leben sind alle ethnische Kirgisen und scheinen in der Tat mehr mit Kirgisistan als mit Tadschikistan verbunden zu sein - wir sahen mehr Straßenverkehr von/nach Kirgisistan als von/nach Murghab und die Uhr in unserer Unterkunft war auf kirgisische, nicht tadschikische, Zeit eingestellt.
Der gemütliche Essbereich unserer Privatunterkunft in Karakul
Früh am nächsten Morgen brachen wir wieder auf und kamen zunächst wieder gut voran und erreichten den Uy-Bulak-Pass noch vor dem Mittag. Ursprünglich hatten wir geplant, zwischen diesem Pass und dem Kyzyl-Art-Pass, der die Grenze zu Kirgisistan markiert, zu zelten, aber da wir am Vormittag schon so weit gekommen waren, dachten wir, dass wir es noch am selben Tag über den Kyzyl-Art-Pass schaffen könnten. Jedoch änderte sich das Wetter bald und durchkreuzte unsere Pläne. Der Nordwind nahm am Nachmittag wieder zu, diesmal auf noch furchteinflößendere Geschwindigkeiten, wirbelte Staubhosen und Sandstürme durch das Markansu-Tal zwischen den beiden Pässen und bildete Sturmwolken über den Bergen um den Kyzyl-Art-Pass. Wir hatten gehört, dass die Straße des Kyzyl-Art-Passes sich bei Regen in ein Schlammloch verwandelt, so dass wir ihn nicht bei schlechtem Wetter überqueren wollten. Als der Wind (unsere Schätzung) 60-70km/h erreichte, stark genug, um Heikos selbstgebastelte Plastik-Schutzblech-Verlängerung abzureißen, konnten wir nicht länger weiterfahren und unsere Räder bloß gerade eben noch schieben, um Zentimeter für Zentimeter unseren ursprünglich geplanten Zeltplatz zu erreichen. Dort, nur etwas vor dem Wind geschützt, schlugen wir unser Zelt auf und versteckten uns darin vor dem gerade einsetzenden Regen.
Am nächsten Morgen war das Wetter wieder gut und wir machten uns auf den Weg zum Kyzyl-Art-Pass. Wir fanden die anderen drei Radfahrer an einem weiteren, leicht geschützten Zeltplatz nur etwa 1km vor uns und überquerten zusammen mit ihnen die Grenze.